- Walser: Porträt eines unbequemen Schriftstellers
- Walser: Porträt eines unbequemen SchriftstellersAls »Chronist des Mittelstands« gilt der Schriftsteller Martin Walser, der in seinen Romanen die Schwächen seiner Helden ironisch einfühlsam schildert und dabei doch gnadenlos demaskiert. Großes Aufsehen erregte Walser zuletzt durch seine Rede, die er 1998 aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche hielt. Darin sagte er, die ständige Thematisierung von Auschwitz als »Moralkeule« sei kontraproduktiv. Der (kürzlich verstorbene) Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, warf ihm daraufhin »geistige Brandstiftung« vor.Martin Walser — Vita und WerkDissertation über Franz Kafka und erste VeröffentlichungenMartin Walser kam am 24.03.1927 in Wasserburg am Bodensee als Sohn eines Gastwirts und Kohlenhändlers zur Welt. Der Vater starb, als Martin Walser elf Jahre alt war. Walser ging auf die Oberschule in Lindau, wurde 1943 als Flakhelfer gezogen und machte im Jahr 1946 sein Abitur. Ab 1946 studierte er Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte zunächst an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Regensburg, dann ab 1948 in Tübingen. Im Jahr 1951 promovierte er mit der Arbeit »Beschreibung einer Form. Versuch über die epische Dichtung Franz Kafkas«.1949—1957 arbeitete Walser als Reporter und Regisseur für den Süddeutschen Rundfunk. 1955 erschien Walsers erstes Buch, der Prosaband »Ein Flugzeug über dem Haus«. 1955 erhielt Walser auch den Preis der »Gruppe 47« für seine Erzählung »Templones Ende«. Seit 1957 ist Walser freier Schriftsteller. Martin Walser ist verheiratet und hat vier Töchter, die alle Schauspielerinnen und/oder Schriftstellerinnen sind.1957 erschien Walsers erster Roman »Ehen in Philippsburg«. In diesem Entwicklungsroman beschreibt er das Karrierestreben in einer Großstadt im Süden Deutschlands. Die Protagonisten sind Durchschnittsbürger aus dem deutschen Mittelstand. Ein Antiheld steht auch im Mittelpunkt von Walsers Roman »Halbzeit« von 1960, den er durch die Romane »Das Einhorn« (1966) und »Der Sturz« (1973) zu einer Trilogie erweiterte. Anselm Kristlein ist eine tragikomische Figur, die als nimmermüder Icherzähler von seinen beruflichen Versuchen als Werbekaufmann (in »Halbzeit«), von seinem (scheiternden) Wirken als Schriftsteller (in »Das Einhorn«) und schließlich davon berichtet, wie er, der sich immer angepasst hat, die Kraft dazu schließlich verliert (in »Der Sturz«). (Anti-)Held und Icherzähler Anselm Kristlein kreist in einem andauernden inneren Dialog um sich selbst und offenbart dabei zugleich seine sozialen Verflechtungen und die Beschädigungen seiner Psyche. Mit diesen Büchern begründete Walser seinen Ruhm als satirischer Chronist des Mittelstands der deutschen Nachkriegsgesellschaft.Ab Ende der 70er-Jahre individuelle Schicksale im MittelpunktEnde der 70er-Jahre wendete sich Walser von der Erhellung der sozialen Verflechtungen seiner Hauptpersonen, von der kritischen Bestandsaufnahme der deutschen Mittelschicht, die er durch die Demaskierung seiner schwachen Helden leistete, hin zu einer Darstellung individueller Schicksale wie der erfolglosen Flucht vor Ehe- und Beziehungskrisen.Davon handelte auch seine Novelle »Ein fliehendes Pferd«, die 1978 beim Publikum wie bei der Kritik sehr erfolgreich war. Immer wieder stellte Walser Figuren dar, die, wie er selbst es ausdrückte, »nicht günstig auf sich (wirken)«. Diese oft banalen Schicksale von Mittelstandstypen standen ab den 70er-Jahren im Mittelpunkt seiner Arbeiten. Immer wieder treten Personen auf, die einem ganz normalen Beruf in einer ganz normalen Umgebung nachgehen. Sie alle vereint dabei, dass sie sich »mies fühlen«, vom Leben hintergangen und nicht viel wert scheinen. Was sie nun umtreibt, ist die Tatsache, dass sie da noch irgendetwas in sich spüren — Erinnerungen an besondere Wünsche etwa oder auch längst abgelegte Lebensideale. So betrachten die Alltagshelden in Walsers Panoptikum, das er in seinen Romanen schuf, ihre Lebenswirklichkeit mit wahrlich gemischten Gefühlen, teils mit Verachtung, teils voller Faszination.Walser ist dabei in der Lage, durch seine mit Einfühlungsvermögen gemischte Ironie das Innerste seiner Figuren nach außen zu kehren und dabei gleichermaßen diskret wie gnadenlos zu sein. Weitere Beispiele dafür sind »Seelenarbeit« (1979), »Das Schwanenhaus« (1980), »Brief an Lord List« (1982) und »Brandung« (1985). »Dorle und Wolf«, erschienen 1987, ist eine Spionagenovelle, die in beiden deutschen Staaten spielt. Im Roman »Jagd« von 1988 ließ Walser wiederum den aus »Ein fliehendes Pferd« und »Schwanenhaus« bekannten Gottlieb Zürn die Hauptrolle spielen.Aktuelle Themen nach der deutschen VereinigungIn »Die Verteidigung der Kindheit« griff Walser 1991 — als einer der ersten Autoren überhaupt — das aktuelle Thema der deutschen Einheit auf, indem er seinen (Anti-)Helden Alfred Dorn, der Jahrgang 1929 ist und mit Glück die Bombardierung Dresdens überlebte, an den Lebensumständen der geteilten deutschen Nachkriegsgesellschaft leiden lässt. Großen Erfolg hatte auch Walsers Roman von 1993 »Ohne einander«, eine Satire auf die Medienwelt. 1996 erschien sein Buch »Finks Krieg«, in dem er — anhand einer wahren Begebenheit — den Kampf eines Beamten um seine Rehabilitierung schildert, der nach einem Regierungswechsel abserviert wird. Als er die Rehabilitierung nach Jahren erreicht, ist der Beamte Fink ein anderer Mensch geworden und geht ins Kloster.Zahlreiche Theaterstücke und EssaysNeben seiner Erzählprosa schrieb Walser unter anderem auch gesellschaftlich ambitionierte Theaterstücke, so »Eiche und Angora« (1962/1963), »Die Zimmerschlacht« (1967), »Ein Kinderspiel« (1970), »Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe« (1971), »Das Sauspiel« (1975), »Die Ohrfeige« (1986) und »Kaschmir in Parching. Szenen aus der Gegenwart« (1995). Ferner ist er Autor von bedeutenden literarischen und politischen Essays, wie etwa »Heimatkunde« (1968), »Wie und wovon handelt Literatur« (1973) und »Über Deutschland reden« (1988, erweitert 1990). Walser hat viele Auszeichnungen erhalten, so 1981 den Georg-Büchner-Preis und 1998 den Friedenspreis des Börsenvereins des deutschen Buchhandels.Schon seit langem politisch engagiertMartin Walser zeigte schon immer ein großes politisches Engagement, wobei er sich hauptsächlich außerhalb seines literarischen Wirkungsgebietes einsetzte. So gründete er 1961 eine SPD-Wahlinitiative, setzte sich entschieden gegen den Vietnam-Krieg ein und wurde zumindest zeitweise als distanzierter Sympathisant der DKP angesehen. Allerdings gab er seinen angestammten Freunden und Gegnern ab Ende der 80er-Jahre immer wieder Anlass für irritierte Reaktionen. So gab er im November 1988 zu, sich mit der deutschen Teilung nicht abfinden zu können, was in linken Kreisen nicht sehr populär war — und dabei doch von einer ungeahnten Aktualität. Teilweises Unverständnis rief auch seine 1993 geäußerte Einschätzung hervor, dass die Gewaltbereitschaft von Jugendbanden und ihr »Kostümfaschismus« durch »die Vernachlässigung des Nationalen durch uns alle« hervorgerufen sei (so Walser im Spiegel 26/1993). Immer wieder wies Walser darauf hin, missverstanden worden zu sein.Besonders hohe Wellen schlug seine Rede, die er 1998 aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des Börsenvereins des deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulsmesse hielt. Walser kritisierte darin, dass es zu einer »Instrumentalisierung von Auschwitz« gekommen sei; dadurch, dass man den Holocaust ständig thematisiere und als eine »Moralkeule« benutze, erreiche man den gegenteiligen Effekt. Der (kürzlich verstorbene) Präsident des Zentralrats der deutschen Juden, Ignatz Bubis, warf ihm daraufhin »geistige Brandstiftung« vor. Auch wenn Walser sich später rechtfertigte — er habe keinesfalls von einem Schlussstrich unter die Geschichte gesprochen und zudem nicht Gedenkveranstaltungen oder wissenschaftliche Analysen zum Holocaust, sondern die Medien und die Instrumentalisierung des Holocaust-Begriffes gemeint, und wenn er sich schließlich mit Bubis aussprach und den Streit bei Beibehaltung der Standpunkte beilegte —, so blieb bei manchen der Eindruck, dass ein Mann von der intellektuellen Qualität und dem gesellschaftlichen Bewusstsein, wie sie Martin Walser über Jahrzehnte bewiesen hat, dieses immer noch und weiterhin sehr heikle Thema zum Gegenstand theoretisierender Gedankenspiele gemacht habe.Leseerfahrungen mit Martin Walser. Neue Beiträge zu seinen Texten, herausgegeben von Heike Doane u. a. München 1995.Gerald A. Fetz: Martin Walser. Stuttgart 1997.Identität u. Schreiben. Eine Festschrift für Martin Walser, herausgegeben von Werner Brändle. Hildesheim 1997.Marcel Reich-Ranicki: Martin Walser. Aufsätze. Neuausgabe Zürich 1998.Frank Barsch: Ansichten einer Figur. Die Darstellung des Intellektuellen in Martin Walsers Prosa. Heidelberg 2000.
Universal-Lexikon. 2012.